The smallest man who ever lived

Kennen wir nicht alle einen kleinen Mann1? Einen Mann, der unser Leben tief geprägt und Spuren hinterlassen hat, die wir nicht einfach wegwaschen können? Ein Mann, der uns Narben zugefügt hat, die nur langsam verblassen. Von dem wir dachten, er sei die Liebe unseres Lebens. Die Luft, die wir zum Atmen brauchen? Der eine Mensch, mit dem wir alt und faltig und Händchen haltend auf einer Parkbank sitzen und in den Sonnenuntergang blicken wollten?

Ach, scheiß drauf. Wir sind besser dran ohne diesen kleinen Mann. Ohne diesen Menschen, der Kraft nur daraus schöpft andere klein zu halten. Der ohne das kleinste Anzeichen Streit vom Zaun bricht oder uns mit Silent Treatment für Dinge bestraft, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie getan oder gesagt haben. Wir sind besser dran ohne diesen Menschen, der uns betrügt und uns anschließend in Silberzungen erklärt, dass wir uns geirrt haben. Dass wir Gespenster sehen. Dass da nichts ist und wir aufhören sollen zu spinnen. Wir sind besser dran ohne den kleinen Mann, vor dem uns Freunde und Familie gewarnt haben. Der Mann wegen dem unsere Verwandten nicht an unserer Hochzeit teilnehmen, weil sie sie nicht gutheißen. Wir sind besser dran ohne die roten Flaggen, die unsere Sicht versperren.

Wir brauchen keinen Mann, der glaubt, arbeiten zu gehen, sei der einzige Beitrag, den er leisten müsse in einer Partnerschaft. Dass er sich bei Kinderbetreuung, Erziehung, Wäsche, Arztterminen, Elterngesprächen, Kochen und Aufräumen raushalten kann, weil er – ja – arbeiten geht. Wir brauchen keinen Mann, der uns sagt, dass wir nur Urlaub machen wollen, wenn wir hochschwanger im Krankenhaus liegen, weil unsere Babys zu früh kommen wollen. Wir brauchen keinen Mann, der fremdgeht, während wir um das Leben unserer ungeborenen Kinder bangen. Wir brauchen keinen Mann, der uns lachend fragt, ob wir nicht auch mal hinter einem fahrenden Auto hergeschleift werden wollen.

Wir brauchen keinen Mann, der uns mit Drohen, Weinen, Verzweiflung davon abbringt, uns scheiden lassen zu wollen. Nein.

Wir brauchen keinen Mann, der uns sagt, dass wir nutzlos sind. Dass wir weniger wert als der Dreck unter seinem Fingernagel sind. Dass wir das Geld für ein neues Auto, mit dem wir seine Kinder zu Arztterminen fahren müssen, nur bekommen, wenn wir uns „entsprechend“ verhalten. Wir brauchen keinen kleinen Mann, der so erbärmlich ist, dass er uns emotional erpressen muss. Wir brauchen niemanden, wirklich niemanden, der erst dann freundlich zu uns ist, wenn er einen Orgasmus hatte. Wir brauchen keine Machtspiele. Machtspiele sind für kleine, traurige Männer.

Wir brauchen keinen Mann, der es nicht akzeptiert, wenn wir uns von ihm trennen.
Wir brauchen keinen Mann, der Freunden sagt das sei „nur eine Phase“.
Wir brauchen keinen Mann, der in unserer Abwesenheit das Haus leer räumt.

Brauchen wir nicht.

Was wir brauchen?
Die Einsicht, dass sein Verhalten nicht unser Fehler war.

Was wir bekommen?
Ruhe im Geist, wenn der Teufelskreis der Fragen nach der eigenen Schuld endet.

Was wir irgendwann wieder haben werden?
Vertrauen, dass nicht jeder Mann ist wie dieser eine kleine Mann, der unser Leben so entscheidend geprägt hat.

„And I’ll forget you, but I’ll never forgive
The smallest man who ever lived“
– Taylor Swift (The Smallest Man Who Ever Lived / THE TORTURED POETS DEPARTMENT, 2024)

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  1. Auch Frauen können kleine Männer sein und jene, denen dieser Schuh passt, sind hier liebevoll inkludiert. ↩︎

Infektbingo

Kennt ihr Infektbingo? Das ist unter Eltern ein wahnsinniges beliebtes Spiel in der Zeit von Herbst bis Frühjahr, eigentlich ganzjährig, aber manchmal wird im Sommer pausiert. Aber wer weiß das schon genau. Infektbingo ist im Grunde dasselbe wie „Der Boden ist Lava“, nur dass die Lava aus Keimen und Viren besteht und niemand bei Drei die Füße vom Boden hat und es jeden jederzeit erwischen kann. Und wird. Ist das nicht toll?

Wir gewinnen dieses Spiel seit dem Herbst durchgehend. Da macht uns niemand den ersten Platz streitig. Wir schreien immer ganz laut „Hier!“ und dann ist die Scheiße auch schon wieder am Dampfen. Früher sah man beim Bringen oder Abholen der Kinder weiße Zettel an den Türen des Kindergartens kleben, auf denen die neueste Bingolosung verkündet wurde. Heute, meldet die Kita-App das täglich neueste Höllenfeuer und ich warte fasziniert auf erste Symptome bei meinen Kindern. Ich fühle mich beinahe wie die völlig ramponierte und in Vergessenheit geratene Schwester von Indiana Jones. Ich jage keine verlorenen Schätze. Ich sammle Punkte auf der Karte. Und meine ist voll. BINGO!

In der Kita-App steht Hand-Mund-Fuß. Meine Kinder bekommen Ausschlag.

In der Kita-App steht Läuse. Meine Kinder kratzen sich beim Abholen am Kopf.

In der Kita-App steht Magen-Darm. Meine Kinder haben Bauchschmerzen beim Abholen.

In der Kita-App steht Influenza. Meine Kinder fangen in der Nacht an zu fiebern.

In der Kita-App steht Covid-19. Guess what.

Heute Morgen kam ein neuer Mitspieler dazu: Pfeiffrisches Drüsenfieber. Ich sag mal so: Nein, danke. Wir bleiben jetzt einfach mal zu Hause und lassen diesen Bonus-Kelch an uns vorbeigehen. Das wirft uns vielleicht im Rennen um den diesjährigen Infektpokal zurück, aber man kann nicht alles haben im Leben. Ich entscheide mich gegen das Pfeiffrische Drüsenfieber und für Ausschlag an allen Kindern. Als ob ich eine Wahl hätte. Könnt ihr mein hysterisches Glucksen hören?

Wer allerdings glaubt, dass der Spaß aufhört, wenn die Kinder in die Schule kommen, hat den Infektreigen dort noch nicht erlebt. Die Klassen in der Grundschule hier im Ort laufen kontinuierlich in Unterbesetzung – auf Schüler:innen- und Lehrer:innenseite. Der Vertretungsplan vom Gymnasium ist umfangreicher und aktueller als die Eilmeldungen im Fernsehen. Ich sag’s euch. Wenn du Kinder hast, ist dein Haushalt irgendwann besser bestückt als die Apotheke zwei Orte weiter. Dr. Google ist dein bester Freund und der Kinderarzt und der Kassenärztliche Notdienst sind auf Kurzwahl.

Das ist alles reichlich glamourös, ich weiß. Wenn du dann noch versuchst mit kranken Kindern im Homeoffice zu arbeiten – die Königsdisziplin – dann hast du den diamantbesetzten Gipfel der Elternschaft erreicht. Und fällst mit Anlauf drüber und purzelst volles Volley runter. Wie John Wick beim Versuch die 237 Stufen zur Sacre Coeur in Paris zu Erklimmen. Der Treppensturz war äußerst schmerzhaft anzusehen. Stellt euch einfach vor, die ganzen Profikiller, die euch für das enorm hohe Kopfgeld umbringen wollen, sind die Kindergartenviren. Und ihr seid John Wick. Das ist der beste Vergleich, der mir jemals einfiel. DER BESTE! Ihr kämpft euch das ganze verdammte Jahr an diesen Killern vorbei die Stufen hoch zur Scare Coeur. Und kurz vor dem Weihnachtsurlaub steigt am oberen Ende der Treppe, der fieseste Killer von allen aus und ruft: „ICH BINS! DAS ROTAVIRUS!“ Und ihr fallt scheppernd alle Stufen wieder hinunter. 237 Steinblöcke hinab. Und wenn ihr dann unten angekommen seid, dann geht der ganze Scheiß von vorne wieder los.

Was ich eigentlich sagen will: „John Wick – Kapitel 4“ ist der beste Actionfilm, den ich je sehen durfte. Einhundertsiebzig perfekt choreographierte Minuten Action. Wie ein ganz normales Infektbingo-Kita-Jahr. Großartig.

How to be single

Am Wochenende war ich im Kino. Allein. Nur der Film und ich und – okay – circa 50 andere Menschen. Aber niemanden den ich kannte. Niemand, der mich begleitete. Niemand saß neben mir. Nur ich und die Geschichte auf der Leinwand. Und ich sage euch. Es war ein Genuss. Das mach ich wieder. Es ist schön Single zu sein. Nach mehr als einem Jahrzehnt in einer wirklich schwierigen Partnerschaft und Ehe, empfinde ich die Wochenenden, an denen meine Kinder ihren Vater besuchen, also sehr erholsam und befreiend für mich.

Das liegt nicht an den Kindern. Die vermisse ich wahnsinnig. Jedesmal. Aber ich lerne gerade, Zeit mit mir allein zu verbringen und nur für mich zu sein. Ganz bei mir. Das ist eine völlig neue Erfahrung für mich, die ich unglaublich genieße. Denn allein war ich seit über 17 Jahren nicht mehr.

Das Auffälligste ist die Ruhe. Diese absolute Ruhe. Ich muss nicht reden. Muss niemandem zuhören. Und ich muss nicht streiten. Ich muss endlich nicht mehr streiten. Ich liege da, lausche in die Stille hinein und höre mich atmen. Mehr nicht. Ich mache mein Bett, instagramfertig, mit Dekokissen und Tagesdecke. Räume die Wohnung auf, sauge durch, gieße die Blumen, bringe den Müll runter. Liebe den Anblick des geordneten Heims. Ich bestelle mir Sushi und erfreue mich an der dunkelblau gestrichenen Wand im Wohnzimmer. Weil sie so schön ist. Weil ich keine Kompromisse mehr in der Einrichtung eingehen muss und die Räume so aussehen wie ich es mag. Alles ist so viel aufgeräumter, seit ich mit den Kindern allein lebe. Es fühlt sich viel mehr nach zu Hause an als in den vergangenen 14 Jahren. Das ist heilsam. Und wenn ich den kleinen Flur neben dem Wohnzimmer mit dunkler Blumentapete verzieren möchte, dann werde ich das machen. Ich habe nur noch nicht das richtige Muster gefunden.

Lange habe ich um diese Trennung gerungen. Habe gezweifelt, gehadert, hatte Angst und habe mir Angst machen lassen. Bis ich im Herbst vor zwei Jahren an einen Punkt kam, an dem die Angst vor dem Alleinsein und der Wucht des Alltags nicht mehr zählte. Als ich es endlich schaffte, Schluss zu machen. Und den Neuanfang auf mich zurollen ließ. Das war vielleicht die beste Entscheidung meines Lebens, unabhängig von dem, was noch kommen mag. Es war gut. Es war schwer. Es war hart.

Und jetzt will ich nie mehr zurück. Diesen Befreiungsschlag aus einer toxischen und verkrampften Beziehung, in der ich mich nie aufgehoben, nur immer unter Beobachtung und Beurteilung fühlte, in der ich belogen und betrogen wurde, werde ich für immer in meinem Gedächtnis einschließen. Es hat mir gezeigt, dass ich genug bin. Dass ich genug Frau, genug Mutter, genug Mensch bin, um alleine klarzukommen. Dass ich es wert bin geliebt zu werden, ohne dafür Leistungen zu erbringen, um mir Liebe zu verdienen. Ich habe gelernt mich selbst zu lieben und anzunehmen. Das ist die wertvollste Lektion, die mir das Leben geben konnte nach vielen Jahren gespickt mit dunklen Zeiten und Tränen. Ich bin jetzt alleinstehend. Allein und stehend.

Ich weiß auch gar nicht, ob und wann ich wieder einen Menschen in mein Leben lasse. Soweit bin ich noch nicht. Soweit will ich erstmal gar nicht sein. Ich liebe es viel zu sehr zu entdecken, wie ich allein funktioniere und das Leben allein schaffe. Ganz bei mir. Und dem Sushi Samstagabends. Das muss ich dann auch nicht teilen. Und ist das nicht herrlich? Herrlich!

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Entspannte Tage

Reden wir mal drüber, wie schön der Alltag doch immer noch und immer wieder ist. Ich gehe da echt mit viel Schwung und Elan dran. Ungefähr bis 9 Uhr morgens und bis zum vierten Kaffee. Dann ist Schluss mit lustig. Denn dann habe ich bereits dreimal ungläubig in meinen Kalender geschaut und möchte den Rest des Tages in Embryonalstellung auf dem Bett liegen. Rollläden unten. Licht aus. Augen zu. Es ist alles sehr, sehr schön.

Und dann frage ich mich ganz oft, ob mein – unser – Alltag zu unstrukturiert ist. Aber das ist er nicht. Ich habe feste Abläufe implementiert, die mich über Wasser halten. Morgens, bevor die Kinder aufstehen, bereite ich drei Lunchboxen vor, koche meinen Kaffee und gehe duschen. Dann stehen nach und nach die Kinder auf und es wird lebhaft im Haus. Anziehen, Zähne putzen, Taschen packen. Dann bringe ich die Kleinen in Grundschule und Kindergarten und fange meist im Homeoffice an zu arbeiten. An zwei Tagen in der Woche haben zwei meiner Kinder Therapietermine. Halbjährlich geht es zum Augenarzt und zum Zahnarzt, vierteljährlich in die Diabetessprechstunde und eben wöchentlich zur Ergo- und Logopädie, dazwischen Lernentwicklungsgespräche und Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt. Das habe ich alles irgendwie formschön in meinen Tagesablauf gegossen, neben Einkauf und Wäsche, Aufräumen und dem ganzen anderen Haushaltskram. Nach dem Abendessen packe ich die Kleidung für die Kinder für den nächsten Tag auf den Esstisch, kontrolliere Rucksäcke und Ranzen und räume die Fußböden leer. Dann lese ich mit den Kindern zwanzig Minuten in einem Buch, bevor ich sie bettfertig mache und der Schlaf gut-Marathon beginnt. Und wenn dann alle Kinder schlafen, fühle ich mich unfassbar erschöpft.

Ich freue mich regelrecht, dass ich wieder einen Tag geschafft habe, aber ich bin so müde, so ausgelaugt, so leer. Das ist schon erschreckend. Und dann klingelt der Wecker am nächsten Morgen wieder um 6 Uhr, dieser verfluchte Verräter.

Wer hat denn eigentlich beschlossen, dass das Leben ab einem bestimmten Alter nur noch aus Terminen, Rechnungen, Wäsche und Kopfschmerzen besteht? Ich weiß: Ich nicht und ihr auch nicht. Aber da steh ich nun und möchte doch eigentlich bloß sieben Tage Wochenende bei vollem Gehaltsbezug. Kann doch nicht so schwer sein. Und jemanden, der mir Essen ans Bett bringt. Gerne auch ans Sofa. Da kann auch bequem liegen. Geht aber nicht, weil ich Verantwortung habe für kleine Menschen. Für die Menschen, die ich am meisten liebe. Weil ich Erwachsen sein muss und Steuern zahlen soll. Weil ich einen Führerschein und einen Personalausweis habe, eine Sozialversicherungsnummer und ein Führungszeugnis. Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich ein Malbuch und ne Barbie. Das war gut. Jetzt hab ich Rechnungen und Anwaltsschreiben. Aber das ist eine andere Geschichte. Und wenn ich keine Steuererklärung machen muss, muss ich das Unkraut auf dem Gehweg vor dem Haus entfernen, weil sich sonst irgendwer aufregen könnte. Und die Regenrinne sauber machen, das muss ich auch noch. Ja, Scheiße, ey!

Im Grunde läuft es als Mensch jenseits des Kindergartenalters nie rund. Und wer was anderes behauptet, flunkert.

Schön hier.

Ich habe einen richtig netten Oldie in meinen Notizen gefunden über die Poesie des Alltags. Die zuckerfarbene Büchse der Pandora. Das Gesetz des universellen Chaos. Dies, das, Ananas. Fünf Jahre alt und doch noch knackig. Bitteschön:

Wisst ihr wie toll es ist Kinder zu haben? Wenn die Babies krank sind und alle deshalb schlecht schlafen? Dann treffe ich morgens blöde Entscheidungen wie das noch müde Kleinkind vom Kindergarten abzumelden. Klingt harmlos. Ist es aber nicht! Es entwickeln sich im Anschluss Situationen, die man nur kennt, wenn man so dämlich ist Gremlins nach Mitternacht zu füttern.

Einer der Zwillinge kotzt ins Wohnzimmer, als ich kurz auf Toilette bin. Danach krabbeln beide in die Küche, um sich Alufolie um den Kopf zu wickeln. Luna verreibt sich ständig den Nasenschnodder im Gesicht und auf dem Laminat und Neo zieht überall Kabel raus und Nachttischlampen runter. Als ich den Zwillingen in der Küche Milch zubereite, sitzt Hannah im Kinderzimmer unterm Tisch und schmiert alles mit Linola ein. Der Teppich dort wird nie wieder unter trockener Haut leiden. Anschließend räumen sie alles, wirklich alles, vom Kinderzimmer ins Wohnzimmer. Schleichtiere verursachen höllische Schmerzen, wenn man drauf tritt. Wusstet ihr das? Zwischen all dem Spielzeug finden sie blaue Kreide, die offenbar richtig gut schmeckt. Und zum Abschluss des Tages ist Hannah im Schlafzimmer auf Möbel geklettert, um an mein Mascara auf der hohen Kommode zu kommen und das Sofa im Wohnzimmer damit einzuschmieren. Es hat von nun an die schönsten Wimpern im gesamten Landkreis.

Kinder bereichern unser Leben, machen es bunter (oder schwarz wie mein Mascara von Lancôme) und schöner (sagt das Sofa). Ich kann mir ein Leben ohne Kinder gar nicht mehr vorstellen. Ich weiß auch gar nicht wie das ist ein sauberes Sofa und intakte Tapeten zu haben. Ist sicherlich langweilig, ne.

Ich geh jetzt weinen.
Leise. In Embryonalstellung.
Unten neben der Waschmaschine, die heute die vierte Runde läuft, weil die Bettwäsche die liebevolle Massage mit Schokolade nicht so gut verkraftet hat wie die Kleinsten vielleicht dachten.

Kniegelenkskaputtgeschichte, immer noch.

Teil 6 – Kneel down.

Mein Knie ist ein störrischer Esel. Und Physiotherapeut*innen sind Sadisten. Let‘s face it. Ich bin leidlich masochistisch veranlagt und gestehe daher: Ich gehe gerne zur Physiotherapie. Vermutlich aber auch, da ich weiß, dass es mir danach besser geht und ich einem funktionierenden Bein wieder ein Stück näher bin. Aber diese endlosen Minuten auf der Liege, in denen ich malträtiert werde und jaule, weil alles knackt und zieht und schmerzt, die sind SO UNFASSBAR GRAUSAM! Heute war ich das erste Mal bei einem anderen Therapeuten. Junge, Junge! Das war ein rasanter Hürdenlauf.

Zunächst einmal bin ich ein Weichei. Ein ganz furchtbares Weichei. Während der ersten Schwangerschaft habe ich überlegt, ob ich dieses Kind denn nun tatsächlich aus mir rauspressen muss oder ob ich es einfach dabei belassen könnte und auf ewig einen 1,50m Bauchumfang mit mir herumtragen könnte. Irgendwann wurde mir diese Entscheidung durch meinen verräterischen Körper, Hebammen und Ärzte abgenommen und ich hab so wahnsinnig geflucht und geheult und geschrien, bis ich mein erstes Kind geboren hatte. Nie wieder wollte ich solche Schmerzen haben! Wehen sind furchtbar! Hat zehn Jahre gehalten, dann hab ich Schlag auf Schlag nachgelegt. Naja.

Worauf ich aber hinaus will: Alter Schwede! Warum kann mein Körper Schmerzen empfinden? Muss das denn nun wirklich sein? Warum muss ich mir meine begrenzte Zeit in diesem Leben mit Schmerzen vertreiben. Das ist doch ein total blödes Konzept. Darüber sollte die Natur nochmal nachdenken.

Mein Knie ist aber nunmal mittelfrisch operiert und ich will wieder in Gang kommen, also muss ich Leid wohl in Kauf nehmen. Und ich habe so eine leise Ahnung, dass mein Physiotherapeut genau weiß, wo er mich pieken muss, damit ich unter Qualen und lautstark an der Decke klebe. Fies ist das. Und dann lacht der auch noch. Wusstet ihr, dass man sich die Muskeln im Fuß durch jahrelange Schonhaltung des Beines so verkrampfen kann, dass man quiekt, wenn der Therapeut genau da beginnt zu drücken? Und dann quiekt man (ich) nochmal, wenn der Schmerz langsam nachlässt. Und dann schreit man entrüstet: „Sie sind ein elender Sadist!“. Vielleicht hat im Wartezimmer jemand vor Lachen gegrunzt. Aber ganz sicher bin ich nicht. Eventuell war ich das selbst. Mein Therapeut jedenfalls hat sich gefreut und sich dann zielsicher den nächsten schmerzhaft verkrampften Muskelstrang geschnappt. Ich weiß nicht mehr wie viele Verwünschungen ich geäußert habe, es ist alles sehr unterhaltsam. Und man kann sich ja auch die Zeit vollumfänglich mit Schimpfen vertreiben, wenn man ich ist.

Kaum hab ich den einen Schrecken weggeatmet, jaule ich über die nächste Attacke. Kann der mal aufhören, mein Bein ständig anzuwinkeln? Die Kniescheibe muss auch nicht ständig vor- und zurückrudern, da bin ich mir ziemlich sicher. Das ist so schweißtreibend, man glaubt es kaum. Irgendwann zwischen dem Dehnen und Strecken und Pieksen und Foltern aber werden die verspannten Muskeln locker und die Gelenke beweglicher. Es ist kurios. Das Gefühl des nachlassenden Schmerzes, das sich durch den gesamten Körper zieht, ist eine Erlösung sondergleichen. Eine unbeschreibliche Erleichterung. Eine Freude. Wie nach einem erfolgreichen Schuhkauf. Oder einer Pizza. Mit Eis als Dessert. Und Käsenachos als Zugabe. Ich denk schon wieder an Essen. Zurück zum Knie. Dass der Therapeut „Bis zum nächsten Mal“ zum Abschied sagt und mein linkes Auge sofort danach zuckt, hat bestimmt nix zu sagen. Dass ich aber wie ein gesunder Mensch die Treppe heruntergehen kann, hat vermutlich schon damit zu tun, dass ich gerade eine halbe Stunde lang durch das Tal des Jammerns geschritten bin. Aber das verrate ich nicht. Ich war ganz tapfer. 

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Kniegelenkskaputtgeschichte – aua.

Teil 5 – Let‘s get physical.

Das Offensichtliche zuerst: Physiotherapie, also meine Physiotherapie, ist offensichtlich Quälerei. Denn die Praxis liegt im ersten Stock, ohne Fahrstuhl. Aber mit hübscher Wendeltreppe. Seit dem Aufwachen überlege ich wie ich schadlos die Stufen hochkomme. Das wird noch spannend. Vielleicht bleib ich auch unten im Flur stehen und fuchtel wild mit den Gehhilfen herum. Die erste Herausforderung wartet aber auf mich, ehe ich überhaupt in die Nähe der Treppe komme. Ausgerechnet heute wurde die Hecke entlang des Zugangsweges entfernt und der gesamte Weg liegt voller Äste. Die Arbeiter schauen ganz interessiert zu wie ich mich da durchkämpfe. Fühle mich wie Lara Croft. Oder ein torkelnder Pinguin. Sucht es euch aus. Einer der Mitarbeiter der Praxis steht gerade vor der Eingangstür und beobachtet ganz fasziniert, wie ich mich mitsamt Gehhilfen die Stufen hochheddere. Ich bin heute 1a Anschauungsmaterial.

Nach der Eingangstür kommt die Wendeltreppe und als ich die unter erheblichen Wirksamkeitseinbußen meines Deos erklommen habe, verkünde ich nach Betreten der Praxis, dass ich hiermit eine Einheit Physiotherapie schon hinter mich gebracht habe. Grillenzirpen. Die Sprechstundenhilfe guckt verwirrt hinter der Plexiglasscheibe vor und nebenan springt gerade ein Kaffeeautomat an. Schön. Ich schnaufe. Ich hyperventiliere. Ich fülle meinen Patientenbogen aus und darf mich dann auf eine Liege legen.

Ich sag euch, Physiotherapie ist schlimmer als Schlussverkauf im Woolworth. Das schmerzt wie Hölle! Da stellt die Therapeutin einfach mal fest, dass ich mein Bein nicht komplett strecken kann und bearbeitet es so, dass ich mich zum Schmerz wegatmen an die Atemübungen aus dem Geburtsvorbereitungskurs erinnere, den ich nie besucht habe. Wie lange dauern eigentlich dreißig Minuten? Warum sind die Vorhänge gestreift und der Bezug der Liege nicht? Hab ich am Eingang meine Hände desinfiziert? Und wie bin ich nochmal die Treppe hochgekommen? Ok, davon streckt sich mein Bein leider auch nicht durch. Es zieht. Ich verziehe das Gesicht. Die Therapeutin drückt. Beugt. Drückt. Massiert das Bein. Ich jaule leise. Die halbe Stunde ist vorbei und ich fühle mich, als hätte ich drei Wochen Bootcamp hinter mir. Nächste Woche geht es weiter und ich frage mich, ob mir meine Mama eine Entschuldigung schreibt.

Die Treppe herunterzuhumpeln ist wesentlich einfacher als hochzuschnaufen, man glaubt es kaum. Die Äste auf dem Gehweg sind weg. Wo bleibt denn da die Herausforderung? Dafür steht da jetzt ein Bagger. Und an dem kämpfe ich mich ähnlich schwungvoll vorbei wie Indiana Jones sich einst durch den Tempel des Todes. Weil es noch dauert bis ich abgeholt werde, holpere ich hochmotiviert zur Praxis meiner Hausärztin 100 Meter weiter. Himmel, Arsch und Zwirn, ist das weit! Ich hab das Schreiben vom Chirurgen noch im Rucksack, das ich bei ihr abgeben möchte und weil ich grad einen Lauf hab, lasse ich am Tresen meine Gehhilfen beidseitig von mir wegfallen. Das Aufheben macht dann doppelt Spaß. Immerhin hab ich das jetzt auch erledigt, den Brief abgeben, nicht das Gehhilfen aufheben. Das mach ich ständig. Ich reiß damit auch Bilder von der Wand und Gläser vom Tisch. Die Dinger sind wahre Alleskönner. Herrlich. Sollte jeder mal probieren. Fünf von fünf Sternen.

Trotz allem Jammer, meinetwegen auch Gejammer, werde ich wohl in ein paar Tagen wieder zur Physiotherapie gehen und bis dahin meine Hausaufgaben machen: Bein durchstrecken, schnaufen, nochmal durchstrecken. Toll. Vielleicht ist mein Bein aber auch einfach nur eingegangen, wie meine Strickjacke im Trockner und ist deshalb geknickt. Ich weiß es nicht. Vielleicht hilft das Gequäle ja doch. Und dann brauch ich irgendwann die waffenscheinfähigen Unterarmstützen in lilaglänzend-schwarz wahrscheinlich nicht mehr. Ein Jammer.

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Sticken ist auch Kampfsport.

Sticken, Häkeln, Nähen, Stricken – das sind alles olympische Disziplinen, die in meiner Familie eine lange Tradition haben. Meine Oma hat mir als Kind Röcke genäht, meine Mutter die passenden Jäckchen dazu gestrickt. Ich sah immer aus wie eine bockige Porzellanpuppe mit Pilotenbrille unterm Pony. Meine Uroma hat diese kleinen fiesen Tischdeckchen und Untersetzer geklöppelt, die unter jedem Glas, jeder Vase in der Schrankwand lagen und nach dem Staubwischen am Samstag immer wieder akkurat an ihren Platz gelegt werden mussten. Auf den Sofalehnen lagen bestickte Decken, auf den Sofas Kissen mit gehäkeltem Bezug. Das war alles ganz wildromantisch. 

Als ich mit meiner ersten Tochter schwanger war, riet mir meine Oma, einen Schal zu stricken, wenn der fertig sei, würde sich das Kind auf den Weg machen. Es wurden zwei Schals. Und sie sahen eher aus wie sehr langgezogene Dreiecke. Ich erinnere aber noch genau, wie ich mit meiner Schwester und meiner Mutter abends im Wohnzimmer saß und wir zu dritt strickten und sehr viel lachten. Meiner Mutter hüpften die einzelnen Reihen und Muster ganz unbeschwert von der Nadel. Meine Schwester und ich gingen eher verbissen und mit Todesverachtung an die Sache heran. Unsere Schals hätten auch durchaus als Indiana Jones‘ Peitsche durchgehen können, so straff hatte ich die Maschen gehalten. Ne Hundeleine hätte man auch draus machen können. Egal. Immerhin waren sie farbenfroh, azurblau und baustellenorange. Worauf ich aber hinaus will: Ich bin absolut ungeeignet und untalentiert für jegliche Art von Handarbeiten.

Wenn ich eine Leggings reparieren will, weil sie sturzbedingt ein Loch am Knie hat, wickelt sich meist das Garn in ärgster Verzweiflung zu einem klumpigen Ball geformt um die Hose und entwickelt ein reges Eigenleben. Das Loch ist dann noch da, größer und ausgefranster als vorher, aber zumindest ist das Garn alle und die Nadel kaputt. Ich kaufe sehr viele Hosen und Strumpfhosen nach. Naja,

Meine Schwester hat nach der Geburt ihres ersten Kindes ihre Vorliebe für Schnittmuster und Nähmaschinen entdeckt. Meine Mutter strickt noch immer in regelmäßigen Abständen Mützen, Stirnbänder, Pullover und Jacken für ihre Enkel. Und ich weiß im Ernstfall nicht mal wo der Nähkasten ist. Jede von uns so gut sie kann.

Long story short: In Handarbeiten bin ich also eine veritable Niete. Aber ich gebe nicht auf. Und alle paar Jahre vergesse ich, dass ich es nicht kann und versuche es erneut. Ich bin meine eigene Sitcom. Und mein neuester Streich ist Sticken. Juhu!

Vor einiger Zeit habe ich mir im Fieberwahn einen Stickrahmen, Anleitungen und Garn gekauft und mir ganz naiv gedacht, dass das bestimmt sehr schön und entspannend werden würde. Ich bin mir halt manchmal selbst im Weg. Und das ist für alle anderen sehr unterhaltsam. Eine Woche lang hab ich mir die Verpackung angesehen und immer wieder weggepackt. Heute habe ich die Packung geöffnet. Und damit fängt das Drama an. Da sind ja total viele, miteinander verschlungene Fäden drin! Und winzige Nadeln! Man muss das Stück Stoff irgendwie straff im Rahmen befestigen und das flutscht mir immer weg und an der Stelle bin ich raus. Dieser blöde Rahmen verzieht sich zu einem Ei und der Stoff schlägt Falten. Und dann ist das auch gar nicht immer der gleiche Stich, da gibt es Unterschiede! Warum sagt mir das niemand bevor ich den Kram kaufe?

Das Garn ist dick und ich nehm es doppelt auf die Nadel. Das macht lustige Berge auf dem Stoff und das Garn schnell alle. Außerdem kneife ich die Augen wie eine kleine, blinde Oma zusammen, um besser zu sehen… und, seien wir mal ehrlich, aktuell bin ich näher an Oma dran als an meinem tatsächlichen biologischen Alter. Obwohl, das könnte hinkommen. Ach je, lassen wir das. Ich sticke jedenfalls. Und zersteche mir die Fingerkuppen. Und fluche. Alles sehr poetisch.

Damit die ganze Angelegenheit auch gar nicht Spaß macht, fange ich natürlich mit einem dunkelblauen Stück Stoff an und dunkelgrünem Garn. Ich kneife nicht nur angestrengt die Augen zusammen, ich weiß auch gar nicht wo sich die Nadel gerade befindet und sehe das dunkelgrün auf dem farblich gut passenden Untergrund nicht. Farbenblind bin ich also auch noch. Sticken ist ja auch ein Stück weit Selbstdiagnose. Eine Runde Blätter im – äh – Plattstich hab ich schon geschafft. Und wenn ich über den Stoff streiche, erkenne ich auch wo genau. Jetzt müsste ich die Stempel der Blüten im Knotenstich sticken, aber die Anleitung scheint auf Klingonisch verfasst zu sein. Die Stich-Skizze sieht aus wie das Ebolavirus aus „Outbreak“ und die Erklärung dazu macht so lustige Fragezeichen über meinem Kopf. Herrgottnochmal, ich nehm jetzt die Fitnessbänder und mach was für die Muskulatur der Oberarme. Und dann weicht auch leider grad das Tageslicht der Dämmerung (das war tatsächlich poetisch) und es ist zu dunkel um weiter zu sticken. So ein Pech. Ess ich halt Chips. Vielleicht versuch ich demnächst was Einfaches. Blumenkränze binden oder Neurochirurgie.

Foto: www.pexels.com (dieses Kunststück ist selbstverständlich nicht von mir)

Kniegelenkskaputtgeschichte – nevermind.

Teil 4 – Anwinkeln, Strecken.

Wie viele Kalorien verbrennt man eigentlich auf der Bewegungsschiene? Lohnt sich das überhaupt als Ausdauersport zum Abnehmen? Und zählt Geschenke einpacken als Krafttraining? Ist der schleppende Gang zum Kühlschrank Kurzstrecke oder Langstrecke? Mach ich da was für meine Kondition? Wie zählen die Schritte, wenn ich mit Gehhilfen rumstochere? Und zählen die Schritte überhaupt, wenn ich keinen Schrittzähler trage? Warum geht die Sonne so schnell auf und so schnell unter und was hab ich währenddessen getan? Bin ich wieder ein Stück weit genesen? Und warum stelle ich so viele Fragen?

Mein Alltag ist derzeit sehr einfach und sehr strukturiert. Ich fühle mich wie ein dickes, glückliches Faultier. Die größte Herausforderung des Tages ist meine Thrombosespritze am Morgen. Die angele ich mir vom Kleiderschrank, dann seh ich sie ehrfürchtig an und begutachte anschließend die schöne Rolle Speck unterm Bauchnabel und überlege wo ich heute zusteche. Wie eine fiese Mücke. Wenn ich das geschafft habe, brauche ich erstmal eine Pause. Dann überlege ich wie ich an eine Tasse Kaffee kommen könnte. Die Zubereitung ist nicht das Problem. Ich hab inzwischen ein starkes linkes Standbein. Aber wie transportiere ich die Tasse ohne Schäden zum Bett? Oder überhaupt zwei Schritte weit, ohne den Boden in Arabica einzufärben? Jetzt beim Schreiben fällt mir auf, dass ich dafür ja meinen auslaufsicheren Thermobecher nutzen könnte! Ich bin so schlau. Nach tagelangem Grübeln fällt mir eine Lösung ein. Man sollte mich in Krisenstäbe berufen, ich wäre die ideale Besetzung.

Die erste sportliche Großleistung des Tages ist das Aufstellen der Bewegungsschiene und die erste halbe Stunde Anwinkeln, Strecken, Anwinkeln, Strecken. Ich träume inzwischen davon. Es hat aber auch etwas seltsam Entspannendes, das Bein dort hinein zulegen und zuzusehen wie es sich ohne mein Zutun stetig bewegt. Schöne Sache. Wenn ich es im Anschluss dann noch geschafft habe, ohne Komplikationen auf den Duschhocker zu plumpsen und das Wasser aufzudrehen, bin ich ein sehr glückliches, altes Mädchen. Aber der eigentlich Kick kommt noch, wenn ich wieder aus der Dusche heraus will. Die ist nicht ebenerdig – und sagen wir mal so, die Beschreibung weiter Teile meiner Vorgehensweise beim Verlassen der Dusche, würden euch alle nur verunsichern, also lassen wir das.

Danach könnte ich ein, zwei Tafeln Schokolade essen, aber der Weg zum Schrank im Esszimmer ist mir zu weit. Krasse Diätstrategie. Also such ich mir einen Zombie- oder Pandemiefilm heraus (alles das gleiche) und beruhige mein Gemüt. Währenddessen denke ich an Schokolade. Das Leben ist schön. 

Ab einem gewissen Zeitpunkt ist der Hunger aber schon nervig und ich Fuchs hänge mir einen Stoffbeutel um und wackele damit Richtung Kühlschrank. Kennt ihr den Film „Ab durch die Hecke?“ Ich bin der Waschbär Richie, immer auf der Suche nach dem nächsten großen Happen. Und das bunkere ich alles in meinem Beutel und wandere sehr zufrieden damit zurück zum Bett. Ich sage euch, von außen betrachtet muss das ein Schauspiel sein und ich habe dabei immer die Titelmelodie von Rocky im Kopf. Nur auf den Sprung am Ende des Weges verzichte ich momentan noch. Könnte blöd ausgehen.

Nach zwei weiteren straffen Einheiten im Trendsport „Anwinkeln – Strecken – Anwinkeln“, habe ich den Tag recht erfolgreich abgeschlossen, richte meinen Thrombosestrumpf und wechsle unfassbar elegant von Jogginghose zu Pyjama. Besoffene Otter sind meine größten Fans. Die Gehhilfen habe ich dabei durchschnittlich dreimal umgeworfen (das Tagesmittel liegt bei 15) und fluchend wieder aufgehoben. Es ist alles sehr poetisch. Vögel zwitschern und Häschen stecken sich verträumt Blumen hinter die Ohren. Das könnt ihr mir glauben. Vielleicht liegt es auch an den Schmerzmitteln. Wer weiß das schon. Vielleicht drehe ich auch einfach langsam durch, weil ich ein furchtbar ungeduldiger Mensch bin und so eine Genesung halt dauert. Aber zurück zum eigentlichen Punkt: Wie viele Kalorien hab ich denn jetzt auf der Bewegungsschiene verbrannt? 

Kniegelenksgeschichte – das Musical.

Teil 3 – Rehabilitation my ass.

So, die OP ist geschafft. Ich bin auf meinem Hintern zu Hause die Treppe hochgerobbt, habe meinem fünfjährigen Sohn zugesehen wie er den Duschhocker für mich zusammenschraubt und dann habe ich das geschundene Knie auf einem Venenkissen ruhiggestellt. Aber nochmal zu meinem Sohn: Wie kann ein Fünfjähriger ohne Bedienungsanleitung, die er ohnehin noch nicht lesen könnte, einen Duschhocker aufbauen und das auch noch komplett richtig? Gut, danach hat er seine Zwillingsschwester umgeschubst, das relativiert den Erfolg ein bisschen. Aber hey! Krasses Kerlchen. Jetzt kann ich mich agil wie eine Hundertjährige auf den Hocker plumpsen lassen und duschen. Fantastisch!

Am Tag der OP bin ich noch so herrlich vollgepumpt mit Schmerzmitteln und fühle mich ein bisschen unbesiegbar, weil das Laufen an Gehhilfen erstaunlich gut klappt. Am zweiten Tag find ich das alles gar nicht mehr so cool, denn der Mullverband saugt sich mit Blut voll und ich muss den erstmal wechseln. Unschön. Also versuche das Bein ein bisschen weniger zu belasten. Klappt halt nicht so gut, wenn tagsüber niemand da ist, der mir mal was zu Trinken oder zu Essen bringt. Gegen halb zwei ist der Hunger dann so groß, dass ich mich in die Küche quäle und dort verstörend unbeholfen Nahrungsmittel zusammensuche. Mit Brötchen im Beutel und der Isolierkanne am Griff der Gehhilfe stakse ich zurück zum Bett und habe gar keine Lust mehr auf den Rest des Tages, aber da ruft schon ein netter Mann von der Medizintechnik an, der mir im Auftrag der Unfallchirurgie die Bewegungsschiene liefern und erklären will. Und als es klingelt, ruft der Gatte aus dem Erdgeschoss „Hast du was an?“, bevor er den Krankenpfleger rein lässt. Nee, herrgottnochmal, ich hops hier nackig an Krücken durchs Haus und singe lustige Lieder! Und wenn ich grad so drüber nachdenke, hätte besagter Gatte mir nicht mal was zu Trinken bringen können? Nee? Hm? Für hohen Puls brauch ich keinen Kaffee, dafür hab ich scheinbar vor Jahren geheiratet. Naja.

Jetzt hab ich hier eine Bewegungsschiene, einen vollgesuppten Mullverband, die ZDF Mediathek und Marshmallows. Abnehmen würde ich auch noch wollen. Demnächst. Aber eigentlich will ich grad bloß gehen. Irgendwohin. Zehntausend Schritte am Tag. Aktuell liege ich bei 70.  Und wenn die Kinder mir weiter ab Nachmittag minütlich Weihnachtsplätzchen ans Bett bringen, dann brauch ich keine Gehhilfen mehr, dann roll ich mich die drei Meter bis ins Bad. Und dann macht der Chirurg seine Drohung wahr und operiert mich nochmal und darauf hab ich echt keinen Bock. Denn dann will er aus meinen X-Beinen O-Beine machen, um Entlastung zu schaffen. Und jetzt mal ernsthaft, wie seh ich denn mit O-Beinen aus? Bin ich ein Fußballer? Dann doch lieber die Weihnachtsplätzchen in die Schublade packen und artig Danke sagen. Die Kinder hier sind wie meine Oma, völlig unempfänglich für ein „Nein“. Absolut toll. Die werden mal großartige alte Menschen. 

Wo wir gerade bei alten Menschen sind: Ich könnte auch ein bisschen sticken. Keine Ahnung wie das geht, aber ich habe mir in einem Moment geistiger Umnachtung ein Stickerei-Seit bestellt, weil ich dachte, das könnte gut werden. Aber ich finde im Schlafzimmer keine Schere für die Fäden und im Haus sind überall kleine Absätze und Treppenstufen eingebaut, die mit Gehhilfen zu potentiellen Todesfallen werden. Also denke ich bloß ans Sticken und streame Katastrophenfilme. Man soll zur Genesung ja auch mal fernsehen, zur Entspannung. Ich gucke halt „Contagion“ und „Outbreak“, Realität gewordene Pandemiefilme. So schnell kann’s gehen. Fühlt sich an wie ne Echtzeit-Doku in Dauerschleife. Diese Welt ist ganz schön schräg. Zurück zu meinem Bein, das liegt auch schräg. Und langsam lassen die Schmerzmittel nach und ich mag‘s ganz ehrlich nicht. 

So. Und jetzt Bewegungsschiene. Das wird was. Nachdem ich mehrfach vergeblich ins Haus nach Hilfe gerufen habe, hab ich es geschafft, das acht Kilogramm schwere Ding auf einem Bein stehend selbst aufs Bett zu wuchten und in die Steckdose einzustöpseln. Halleluja. Es quietscht. Und es hebt und senkt und winkelt sich an, dieses Folterinstrument. Eine halbe Stunde lang. Anwinkeln, strecken, anwinkeln, strecken. Hatte ich erwähnt, dass in der kommenden Woche die Physiotherapie losgeht und ich da zum Chef muss und der mich bestimmt quält? Anwinkeln, strecken, anwinkeln, strecken.

Genesung nach einer OP scheint ja der reinste Stress zu sein. Nach der ersten Einheit mit der Bewegungsschiene, hab ich meinen Termin zum Verbandswechsel und humpele ganz locker-flockig in die Praxis. Dort guckt die Schwester ganz verdutzt und meint, dass so eine starke Blutung ungewöhnlich sei, der kontrollierende Arzt vermutet, dass ich bei der ersten Arthroskopie vor 23 Jahren noch ein Baby gewesen sei und da hat jemand grad frisch durchgewischt und ich rutsche aus, kann mich aber zirkusreif mit meinen zwei Unterarmstützen irgendwie balancieren und krache nicht hin. Schön. Im nächsten Leben mach ich was ohne Knie.

Zu Hause wartet meine große Tochter schon, nachdem ich die vierzehn Stufen zum Schlafzimmer wieder auf dem Hintern hochgerutscht bin und mich in die Küche gequält habe, um mich gleich wieder zu verscheuchen. Aber immerhin macht sie mir was zu Essen und ich kann mich aufs Bett legen. Das ist gut. Dort lacht mich aber schon wieder die Bewegungsschiene an und ich würde ihr gerne sagen, dass sie ne dusselige Kuh ist, aber sie will mir ja nur helfen. Und ihr seht, die Genesung macht mich derart kirre im Kopf, dass ich schon anfange Maschinen zu vermenschlichen. Es geht bergab mit mir. Oder bergauf. Wie man’s nimmt. Tschüss.

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