Der März ist ein ganz besonderer Monat. Ein warmer Frühlingshauch liegt in der Luft. Frisches Grün bricht sich auf Wiesen und Feldern bahn. Die ersten zarten Blüten lassen sich blicken. Und für uns ist es der Monat, in dem sich bei meinem kleinen Sohn Diabetes mellitus Typ 1 manifestierte. Und ich damals nicht wusste, ob wir das schaffen würden.

Vor einem Jahr ging ich mit einer ganz blöden Vorahnung zum Kinderarzt und heute ist es unser Alltag: Blutzucker messen, Kohlehydrate ausrechnen, Insulinfaktoren bestimmen, Spritzen setzen. Wenn ich an den Schock denke, den uns der 08. März 2019 eingebracht hat und überlege wie gelassen wir heute mit der Diagnose umgehen und leben, dann bin ich schon ein kleines bisschen stolz.

Neo, mein Kämpfer. Neo, das zarte Baby, dessen Fruchtblase zehn Wochen zu früh platzte und einen Nabelschnurvorfall auslöste. Neo, das kleine Menschlein, das am 19. Oktober 2016 um 18:04 Uhr per Notkaiserschnitt zur Welt kam und sich Seite an Seite mit seiner Zwillingsschwester ins Leben kämpfte. Neo, der im Winter 2019 plötzlich ganz anders war, abwesend, schlapp, müde und gar nicht er selbst. Neo, mein Herz. Neo hat Diabetes. Und er wächst jeden Tag mit und an seiner Autoimmunerkrankung.

Ich erinnere die ersten Tage nach der Diagnose, auf Station. Ich erinnere das Schreien und die Tränen und die Angst vor den Spritzen. Erinnere, wie ich mit ihm geweint habe. Hoffte, dass es einfach vorbei geht. Dabei wusste ich, dass wir jetzt einen Gast auf Lebenszeit haben. Was habe ich hektisch Bücher gewälzt, das Internet durchforstet und Nährwertangaben gelesen. Die Schulungen im Klinikum haben mir die Panik genommen, aber nicht die Angst davor, ihn täglich spritzen zu müssen und dabei irgendwas falsch zu machen. Ich weiß noch, wie sehr ich gezittert habe, als er seinen ersten Sensor gesetzt bekam. Dabei hatte ich nur zugesehen! Ich wusste nicht, wohin zu Hause mit all dem medizinischen Zubehör und den Medikamenten. Einatmen. Ausatmen.

Es ist wahr, was man sagt. Je früher die Diagnose für eine Autoimmunerkrankung steht, desto besser und schneller lernen die Kinder damit umzuleben und ihr Leben damit zu gestalten. Das ist bei meinem Sohn nicht anders.

Der kleine Süße kam schon öfter schlaftrunken mit seinem Messgerät in der Hand angewatschelt. Er bemerkt dann selbst, dass sein Blutzucker zu hoch ist. Wenn er hypoglykämisch wird, sagt er oft: “Mama, mir geht es nicht gut.” und dann weiß ich, es ist Zeit für Traubenzucker oder Schokobons. Er wächst daran. Und seine Geschwister auch. Wir haben ein Ritual, jeden Abend, wenn die Kinder bettfertig sind. Dann kommt die Gute Nacht-Spritze für mein Zuckerkind. Ich rufe ihn und er kommt ins Esszimmer geflitzt. Seine Zwillingsschwester im Schlepptau.

Sie nimmt seine Hand und ich setze die Spritze mit seinem Langzeitinsulin. Beide fangen an zu zählen: „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht… hast du wieder toll gemacht!“ Und wenn die beiden Händchen halten und sich beim Zählen anschauen, hab ich nur Liebe im Herzen. Sie weiß. dass ihr Bruder eine Krankheit hat. Sie sieht jeden Mittag die Schwester vom Pflegedienst im Kindergarten, die ihren Bruder spritzt. Und sie sieht, dass wir häufig mit dem “Pieps” an seinem Arm messen. Sie weiß auch, dass er in regelmäßigen Abständen zur Diabetessprechstunde ins Klinikum fährt. Und sie weiß, dass sie Süßigkeiten abstauben kann, wenn der Glukosewert ihres Bruders zu niedrig ist. Denn dann hat sie auch Unterzucker. Immer. Praktisch.

Wenn Neo Hunger hat, kommt er oft mit hochgezogenem Shirt zu mir und sagt: “Mama, Spritze!” Der kleine Strolch weiß wie der Hase läuft.

Heute, ein Jahr nach der Diagnosestellung bin ich entspannter und habe keine Angst mehr. Ich weiß jetzt, dass wir das schaffen werden. Und ich weiß, dass er auf nichts verzichten muss. Heute gibt es warmen Apfelkuchen. Mit Vanilleeis. Ich rechne schon mal im aus, wie viele Einheiten Insulin er dann bekommt. Automatisch. Ich brauch keine Listen mehr. Alles hat seinen Platz. Alles hat seine Zeit.

Diabetes ist ein ungebetener Gast, der es sich bequem gemacht hat in unserer Mitte. Heute feiern wir einjähriges WG-Bestehen. Mit Gurken, Würstchen, Käse und Kuchen!

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2 Kommentare

  1. Wie berührend und liebevoll Deine Zeilen! Und ohne Euch zu kennen, drücke ich Euch in Gedanken fest – und finde, Ihr macht das einfach wunderbar!

  2. Das hast Du sehr liebevoll und rührend geschrieben. Hut ab wie Ihr das alles meistert. Klar wachsen die Kinder sehr gut rein und kommen irgendwann gut damit klar. Aber es am Anfang ist das alles ein Riesen Schock. Du bist ein echter Lebenskünstler. Bleib wie Du bist. Du bist Klasse

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