Entschleunigung im Rückwärtsgang

Wir waren spazieren. Alle. Das bedeutet für den kleinen Ort, in dem wir leben, dass eine lautstarke Völkerwanderung losbricht und man sich zum Schutz von Füßen und Nerven besser hinter der Gardine versteckt. Denn! Die drei Kleinsten fahren Laufrad. Ich bin Chefin meiner eigenen Bikergang. Und da geht man als unbeteiligter Dritter lieber auf zaghaften Abstand. Jeder, der Sons of Anarchy gesehen hat, weiß was ich meine. Drei Kleinkinder auf Laufrädern, zwei genervte Teenager, ein völlig entspannter Papa und eine Mama am Rande des Nervenzusammenbruchs. Der Radweg ist schlagartig voll und nichts geht mehr. Weder vor noch zurück und damit sind wir auch schon beim Kern des Pudels angekommen.

Nichts! Geht! Mehr! Denn da liegen Steine am Wegesrand. Und Grasbüschel wachsen gemächlich vor sich hin. Und die Hundehaufen sehen auch ganz fürchterlich interessant aus. Könnte man näher betrachten, am besten in der Hocke, leicht nach vorne kippend. Überhaupt ist alles interessant. Jeder Fussel, jedes Blatt, jeder Radfahrer, jeder Hund, jeder Stein. Nur Mama und Papa nicht, wenn die was sagen. Das ist das gelebte Rückwärtslaufen, das weltberühmte Hamsterrad. Die Entdeckung der Langsamkeit. Das ist der sagenumwobene Weg zum Schicksalsberg, der so unendlich lang ist, dass man das Gefühl hat nie auch nur in seine Nähe zu kommen. Und wenn doch, dann entpuppt sich ein kleiner Stock als der eine Ring, der Schatz, um den sich drei Gollums zanken. Da kannste schon mal in Embryonalstellung im Feld liegen.

Fünf Kinder bedeuten ja auch fünf unterschiedliche Geschwindigkeiten und Richtungen. Das geht niemals einheitlich nach vorne, sondern immer sternförmig auseinander. Und da ich nicht Elastigirl bin, muss ich Speedy Gonzales und Lastenesel in einem sein. Nach 500 Metern nämlich trage ich zwei Laufräder, habe die Taschen voller Steine und war schon eine Stunde unterwegs. Mein Mann sitzt irgendwo am Wegesrand in der Hocke und beobachtet das Spektakel. Der hat’s raus. Die Zwillinge haben gerade einen Welpen entdeckt, der heute wahrscheinlich zum ersten Mal Gassi geführt wird und das ab sofort zeitlebens verweigern wird. Die Vierjährige brüllt derweil die Teenager an, weil die sich nicht brav untergeordnet haben und hinter ihr hergelaufen sind. Als völlig logische Konsequenz lässt sie ihr Laufrad im Feld fallen. Es ist alles sehr harmonisch.

Die Sonne kitzelt die Seele und in der Ruhe der Natur kann man endlich mal ausspannen. Haha! Könnte man. Allein. In Alaska. Aber nicht hier. Ich belle Befehle und Bitten in fünf Richtungen und werde aus fünf Richtungen ignoriert. Schlafen wäre jetzt schön. Wie Dornröschen.

Unerwarteterweise einigt sich die Kolonne schließlich auf eine gemeinsame Marschrichtung, die nach zehn Metern damit endet, dass die Zwillinge um ein Laufrad streiten. Worte wie „Böse Luna“ und „Neo war das!“ fallen. Nasen laufen. Taschentücher fliegen durch die Szenerie. Nerven bröckeln. Am Ende will keiner damit fahren und beide möchten auf meinen Arm. Klar, ich fahr einfach die Greifer Nummer 3 und 4 aus. Passt schon. Nach produktivem Abwägen aller Möglichkeiten, trage ich den leichteren Zwilling und den anderen hab ich an der Hand. Papa trägt die Laufräder. Die Teenager trotten brav hinter der Vierjährigen her und nach dreistündiger Odyssee durch zwei Häuserblocks und einen kurzen Ausblick auf den Radweg, den ich eigentlich im Blick hatte für die Tour, sind wir wieder am Startpunkt angekommen. Da hätte ich auch einen Marathon laufen können durch den Ural, das wäre weniger anstrengend gewesen. Morgen soll es regnen. Da können wir nicht spazieren gehen. Schade.

Wusstet ihr übrigens, dass man Findlinge auf fremden Grundstücken mit einem leichten Stockhieb und dem Ausruf „Meine!“ in Besitz nehmen kann? Uns gehören jetzt rund 30 riesengroße Steine. Hat jemand ein Katapult und braucht die Dinger?

Papas sind leichte Opfer

Heute Nachmittag war ich mit der Großen in der Stadt beim Optiker. Nach gut einer Stunde, dreitausend Brillengestellen später und 150€ ärmer kamen wir wieder zu Hause an. Oder besser: in dem was davon übrig blieb. Ich hätte vielleicht einfach im Auto sitzen bleiben und zur Ostsee durchfahren sollen. Da ist es im Winter ganz wunderbar still und aufgeräumt.

Der Papa war mit den drei Kleinsten allein zu Hause. Und sagen wir mal so: Die müssen den Kerl sediert und mit Panzertape an die Decke geklebt haben. Anders kann ich mir das nicht erklären. Vielleicht ist mein Mann in dieser auch Zeit schlagartig erblindet, wurde taub und bewegungsunfähig. Die Kinder könnten ihn mit einem Nudelholz k.o. geschlagen haben. Eventuell war er aber auch so sehr gefesselt von seinem neuerlichen Raub in Age of Empires, dass es ihm unmöglich war, nach den Kindern zu sehen. Ich habe da viele Theorien. Er hatte gerade nur ein überraschtes „Huch!“ in petto. Und ich hab Puls.

Chaos und Zerstörung komprimiert auf 60 Minuten. Das ist eine krasse Leistung. Im Kinderzimmer befand sich kein Stein mehr auf dem anderen. Der Putz in der Küche wurde an diversen Stellen großzügig abgeschabt, glatte Wände sind ja auch viel schöner. Vom Flur bis zum hintersten Winkel des Kinderzimmers lag eine Spur Styropor, wie Brotkrümel. Beim Sonntagsmärchen passen sie also gut auf. Die Werkbank und der große Bagger waren als Schutzwall hinter der Tür zum Kinderzimmer aufgebaut und danach musste ich mich erst einmal durch ein Gebiet voller Tretminen schlagen – Matchbox Autos und Legosteine. Dazwischen Haarspangen. Unzählige! Jetzt hab ich die zumindest wieder und muss nicht mehr verzweifelt danach suchen.

Weil das an sich Situationen sind, in denen mir gerne die ein oder andere Halsschlagader platzt, atme ich tief durch und schnür die Laufschuhe. Schlimmer kann es ja nicht werden. Ach was red ich. Kann es doch. Während ich japsend und graziös wie ein besoffener Otter meine sechs Kilometer runterreiße, reißen die Plagegeister zu Hause den Inhalt meiner Handtasche an sich und versenken ihre Handabdrücke in der Quarktorte. Als Finale parken sie den Schiebe-Bagger als Stolperfalle direkt hinter der Schlafzimmertür. 

Und jetzt weiß ich es auch: Ich lass sie nie wieder „Minions“ gucken, die lernen da zu viel. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit haben die sich übereinander gestapelt und sind als hinterhältige Räuberleiter mit der Wokpfanne im Anschlag hinterrücks auf meinen Mann los. Die haben den Ärmsten erneut bewusstlos geschlagen! Der kann gar nix dafür. Seht ihr doch auch so?

Diese Theorie rettet zumindest sein Leben für den Moment. Er schenkt mir gerade ein Glas Martini ein. Und dann mach ich die Augen zu und singe ganz laut „Lalalalala!“ – dann ist das ganze Chaos nämlich gar nicht mehr da.

Kinder sind Gremlins

Wisst ihr, wie toll es ist Kinder mit Rotznasen und Husten zu haben? Wenn die Kleinsten krank sind und alle deshalb schlecht schlafen? Dann treffe ich morgens blöde Entscheidungen – wie das noch müde Kleinkind vom Kindergarten abzumelden. Ach, die anderen beiden ja auch. Soll ja lustig werden. Klingt harmlos. Ist es aber nicht! Es entwickeln sich im Anschluss Situationen, die man nur kennt, wenn man so dämlich ist Gremlins nach Mitternacht zu füttern.

Einer der Zwillinge kotzt mein Müsli ins Wohnzimmer, als ich kurz im Bad bin. Wollte ich zwar essen, eignet sich aber wohl besser als Trittschalldämmung. Danach ziehen beide weiter in die Küche, um sich Alufolie um den Kopf zu wickeln, die der Papa in der morgendlichen Eile in durch Hocker stapeln erreichbarer Höhe auf der Arbeitsplatte liegen ließ. Zwilling 1 verreibt sich ständig den Nasenschnodder im Gesicht und auf dem Laminat und den Wänden und Zwilling 2 zieht überall Kabel raus und Nachttischlampen runter. Als ich den beiden in der Küche etwas zu trinken gebe, sitzt die Vierjährige derweil entspannt im Kinderzimmer unterm Tisch und schmiert alles mit Linola ein. Der Teppich dort wird nie wieder unter trockener Haut leiden.

Anschließend räumen die „Drillinge“ alles, wirklich alles, vom Kinderzimmer ins Wohnzimmer. Wie eine beschwipste Ameisenkolonie. Schleichtiere verursachen höllische Schmerzen, wenn man drauf tritt. Wusstet ihr das? Zwischen all dem Spielzeug finden sie blaue Kreide, die offenbar richtig gut schmeckt. „Braveheart“ haben sie zwar nie gesehen, aber die Visagisten könnten sich noch heute gute Tipps bei meinen Kindern holen.

Während ich mit den Zwillingen diskutiere, dass es doch einfacher wäre, das Spielzeug im dafür vorgesehenen Raum zu lassen, klettert die Vierjährige im Schlafzimmer über diverse Möbel, um an mein Mascara auf der hohen Kommode zu kommen und das Sofa im Wohnzimmer damit einzuschmieren. Es hat von nun an die schönsten Wimpern im gesamten Landkreis. Für immer. Geht nicht raus. Was soll’s. Passt nun wunderbar zu meinem ehemals cremefarbenen Bürostuhl, den jetzt expressionistische Werke zieren, die liebevoll mit Papas wasserfester Edding-Sammlung angebracht worden sind. Jackson Pollock würde applaudieren. Die Edding Marker standen übrigens auf dem höchsten Regal im Büro. Aber hey! Wenn man einmal die hohe Kommode im Schlafzimmer erklommen hat, ist das Regal überm Schreibtisch ein Klacks.

Kinder bereichern unser Leben, machen es bunter (oder schwarz wie mein Mascara von Lancôme) und schöner (sagt das Sofa). Ich kann mir ein Leben ohne Kinder gar nicht mehr vorstellen. Ich weiß auch gar nicht wie das ist ein sauberes Sofa und intakte Tapeten zu haben. Ist sicherlich langweilig, ne. Aber vielleicht machen die Monster (eh, Kinder) ja gleich Mittagsschlaf, dann kann ich kurz aufräumen (Schnaps trinken) und die Füße hochlegen (weg rennen).

Ich geh jetzt weinen.
Leise. In Embryonalstellung.
Unten neben der Waschmaschine, die heute bereits die dritte Runde läuft, weil die Bettwäsche die liebevolle Massage mit Schokolade nicht so gut verkraftet hat wie die Kleinsten vielleicht dachten.