Do you remember?

Meine erste große Liebe habe ich an einem sonnigen Freitagnachmittag getroffen. Schreiend, verschmiert, zerknittert, meins. Ich war gerade 25 Jahre alt geworden, mitten im Bachelorstudium und Single. Und dann war da plötzlich dieses kleine Häufchen Mensch, dass zu mir gehören sollte. So winzige 46 Zentimeter, so kleine Füßchen, so schrumpelige Händchen und verknautschte Ohren. Überall Käseschmiere. Und ich war so verliebt. Für immer. Das geht doch jeder Mama so, oder? Die Neugeborenen können aussehen wie Gremlins, wir lieben sie. So unabdingbar. Und dieses Gefühl soll eine Weile halten, mindestens bis zur Pubertät.

Here we go! Dieser magische erste Moment ist nun dreizehn Jahre her. Wir haben es mit ein, zwei, vier Geschwister-Ablegern bis zur Pubertät geschafft. Und gestern waren meine Große und ich Schuhe kaufen, fürs Skilager. Das stellte meine Mutterliebe auf eine harte Probe. Winter- oder Wanderschuhe sollten es sein, so der Sportlehrer auf dem Elternabend. Okay. Ich weiß, was Winterschuhe ausmacht. Meine große Tochter wahrscheinlich auch, aber das ist ja noch kein Argument. Da gehst du mit ihr jedes Regal ab, guckst nach Futter in den Schuhen und Sohlenprofil – und sie zeigt zielsicher auf – ja! – Lackschuhe. Lackschuhe im Skilager, Badelatschen zum Bergsteigen. Argumente, dass es schön glänzt, aber nicht wärmt, verhallen ungehört. Das einzige, was dann doch noch den Kauf vorzeitig abbricht, ist die Tatsache, dass die Dinger nur drei Nummern zu groß vorrätig sind. Gut. Next. Hey, da stehen Buffalos! Mit zehn Zentimeter hohen Sohlen, damit sollte es doch keine Probleme im Schnee geben. Will sie nicht. Die hat ja keine Ahnung! Die Verkäuferin hinter uns sortiert schon auffällig lange lachend die Schuhe ins Regal ein. Mein großes, dickköpfiges Mädchen schlurft mit hängenden Schultern zum nächsten Regal und kommt mit schwarzen Boots wieder. Ich halte senfgelbe Wanderschuhe dagegen. Sie probiert beide an – ja! – so haben die Verkäuferin und ich auch geguckt! Und schiebt mir dann den Schwarzen Peter zu. „Sag doch mal, welche dir besser gefallen. Sonst kaufen wir Schuhe, die du nicht magst!“ – Diese Logik! Ich trag die Schlappen doch nicht! Aber hey, gut. Ich finde die gelben besser. Sie entscheidet meinem Rat folgend – richtig – auf schwarz. Alter! Nach geschlagenen drei Stunden Odyssee durch die Schuhläden der Landeshauptstadt bin ich einfach nur froh, dass wir kurz vor der Ziellinie sind. An der Kasse schließlich verhakt sich das Kind mit dem Schuhkarton im Beutel und blökt entnervt: „Boah, Mama! Kannste mir nicht mal helfen?“ Vielleicht ist mir rausgerutscht: „Ich habe dich schon auf die Welt gebracht. Wie viel Hilfe willst du denn noch?“ Und vielleicht hat sich die Kassiererin lachend an ihrem Kaugummi verschluckt und das glücklich schwangere Pärchen hinter uns guckt eventuell etwas irritiert auf den wachsenden Babybauch und ahnt Übles. Ich bin so gerne behilflich.

Maya und Findus

Und wie mich mein Kind da so völlig entnervt ansieht, fällt mir wieder ein, wie niedlich die mal war! Mit ihren großen Augen und der Stupsnase. Wie sie immer völlig ausrastete, wenn meine Schwester und ich ihren einen Raum voller Luftballons aufgepustet hatten. Oder sie an ihrem fünften Geburtstag ein riesiges Findus-Kuscheltier bekam und den nie wieder hergab, bis heute nicht. Wie wir jeden Abend zusammengekuschelt einschliefen und dabei „Pettersson und Findus“ hörten. Wie sich unsere kleine Welt nur ums Glücklichsein drehte. Meine erste große Liebe und ich. Mein Sonnenschein. Dieser kleine Mensch, der mich so unerwartet vollkommen machte.  Dieses Kind, das so völlig unanstrengend und unkompliziert war. Dieses Kind, das so wahnsinnig gerne und laut lachte. Dieses Kind.

Ich durfte sie nun schon dreizehn Jahre auf ihrem Lebensweg begleiten. Jahre, in denen sie Melodika und Akkordeon spielen lernte. Klavier für sich entdeckte und sich jetzt selbst das Gitarre spielen beibringt. (Noten lesen kann sie als Erste in dieser Familie. Das kann sonst keiner. Keine Ahnung, warum sie diese Superpower hat.) Jahre, in denen sie ihren eigenen Stil und ihren eigenen Kopf entwickelte. Und dieser Kopf macht mich fertig. Der ist so dick! Also nicht dick. Kein Wasserkopf. Nicht im herkömmlichen Sinne. Sondern stur. Unendlich stur.

Wenn sie in der Drogerie halt nicht richtig liest und statt des Shampoos nur die Spülung einpackt, dann ist das eben dasselbe. Punkt. Und wenn ich ihr ein Deo kaufe und sie mir sagt, das würde nach toter Katze riechen, aber ich könne das ja nehmen, dann nehm ich das und laufe Arme rudernd an ihr vorbei. Und wenn sie mit ihrem Stiefpapa streitet, dann mit ganzem Einsatz, bis einer weint. Oder die Türen knallen. Und wenn sie kocht, dann eben ohne Salz, weil sie Salz doof findet und wir essen dann mit einem gequälten Lächeln heiße Pappe. Und wenn sie vom Schultag erzählt, dann hat halt jeder Sendepause. Und keiner kommt mehr hinterher, weil es so schnell geht und die Infos so reichhaltig sind. Und bei alledem erkenn ich mich wieder – außer beim Noten lesen. Bei alledem seh ich in meinen Spiegel und liebe dieses große Kind ein Stückchen mehr. Auch wenn sie immer zu kurze Jeans trägt und die auch noch hochkrempelt, im Winter, weil’s halt cool ist. Auch wenn sie immer Recht haben muss und es nicht akzeptieren kann, wenn es mal nicht so ist. Auch wenn ihr Lieblingswort „Delicious!“ ist und ich sie dafür schubsen möchte, weil sie auf jeden verdammten Satz damit reagiert. Auch wenn sie ihre Socken drei Tage am Stück trägt. Auch wenn sie manchmal echt unfassbar doof sein kann. Und stinkt. Ich liebe sie.

Auch beim anschließenden Jeanskauf. Mit meinen Gedanken war ich back in 2007, als sie in Gummistiefeln und Tutu mit ihrem neuen Regenschirm im Hof getanzt hat. Als sie mit ihrem Uropa auf der Gartenbank saß und seine frisch gepflückten Himbeeren aus dem Körbchen gefuttert hat, bevor die Uroma schnöde Marmelade daraus machen konnte. Da hab ich mich an all die goldenen Momente erinnert und fand es prima, dieses Kind zu haben. Als wir dann noch beim Optiker waren, um ihre neue Brille, mit der sie aussieht wie ihr eigener Snapchat-Filter, richten zu lassen, da war ich stolz, weil ich dieses Weib groß bekommen hab. Und so selbstsicher und freundlich und höflich und schlau – und schlagfertig. 2005 hatte ich so eine irre Panik irgendwas falsch zu machen. Sie vom Wickeltisch fallen zu lassen oder beim spazieren gehen zu verlieren. Aber ich bin beständig ein Level weiter gekommen und das macht mir Mut für die übrigen vier Kinder hier. Wenn ich diesen grantigen Edelstein hier aufziehen konnte, ohne grobe Fehltritte, dann schaff ich das auch mit den vier fast baugleichen Zwergen. Vielleicht. Hoffentlich. Wird schon.

Ach Mensch, war die mal klein.

Ach Mensch, ist die jetzt groß.

Ach Mensch, bin ich stolz auf sie.

Ich hab was im Auge.

Bis später.

Was am Ende wirklich zählt

Gestern war ein richtiger Scheißtag. Anstrengend, vollgepackt mit Terminen und Autofahrten. Das bedeutet dann meist Kinder von A und B einsammeln, nach C fahren, nach A zurück und ab nach D, noch mehr Kinder einsammeln und wieder zurück nach A und von da aus nach E, weil es so viel Spaß macht. Kommt sicher der ein oder anderen Mama bekannt vor. Diese Tage bleiben nicht aus, wenn man einen Stall voller Kinder hat. Wenn der Papa des bunten Haufens Spätdienst hat, bleibt leider  alles an mir hängen und solche Tage gehen meistens ganz grandios in die Hose. Fünf Kinder sind dann fünf potenzielle Katastrophen, Mama irgendwie auch. Das beginnt dann auch gerne mit genervtem Türen knallen kurz nach sieben Uhr morgens. Für solche Momente lebt man doch, ne? Nee!

Kinder geben einem so viel: schlechte Laune, Dreckwäsche, verspätete Notenzettel, Gestank und Diskussionen mit enorm hohem Aggressionspotenzial. Damit man den Nachwuchs nicht ungespitzt in den Boden rammt oder über eBay Kleinanzeigen als Minenarbeiter verschachert, wartet die Natur meiner Meinung nach mit einem ganz hinterhältigen Trick auf: Kleinkinder und Babys sind mit Vorsatz niedlich, damit man sich in brenzligen Situationen daran erinnert und sie trotzdem liebt.

Allerdings ist der Tag halt mittelschwer gelaufen, wenn ich schon vor dem ersten Kaffee lautstark konstatieren kann: „Ich hasse Kinder!“ Da sitzt du dann später mit einem der Teenager beim Kieferorthopäden und hörst mit wachsender Pulsfrequenz den Lügengeschichten zu, die sie da zum Besten gibt, bevor dir der Kragen platzt und du ins Geschehen eingreifst. Wusstet ihr, dass es keine signifikanten Verbesserungen am Gebiss gibt, wenn man die Zahnspange nicht trägt? Verrückt, oder? Wusstet ihr, dass auch Kieferorthopäden dann streng werden können und einen Abbruch der Therapie in Aussicht stellen, da auf den Zahnspangenträger scheinbar kein Verlass ist? Und wer ist schuld? Genau! Ich! Glaubt zumindest das Kind, das immer dann, wenn ich nicht aufmerksam beobachte, die blöde Spange wieder rausnimmt und damit die Behandlung sabotiert. Was Zeit und Geld und Nerven kostet. Aber hey! Yolo!

Kurz darauf fragt sie, ob sie ihr Handy wiederhaben kann, das ich gestern Abend eingezogen habe, weil sie ihre Aufgabe, die Kleinen zu beaufsichtigen, damit ich kochen kann so großartig erledigt hat. Man sieht halt nicht, dass die drei apokalyptischen Reiter den Esstisch mit Buntstiften bearbeiten, wenn man zwei Zimmer weiter im Bett liegt und am Handy zockt. Um William Shakespeares „Hamlet“, Akt II, Szene IV, Vers 48 zu zitieren: „Nein!“ Und – Zack! – bin ich zum zweiten Mal an diesem Tag schuld an ihrem Ungemach. Ich beantworte das mal so charmant wie sie sonst – mit einem Schulterzucken. Ob sie zur AG Entspannung gehen könne. Klar. Gibt mir auch ne Stunde Entspannung. Zumindest von einem der fünf Nervenkitzler hier.

Während also ein Teenie zur AG Entspannung geht, liegt der andere Teenie auf dem Bett und prägt sich ein, dass die Sahelzone gleich neben der Sahara bei Grönland liegt. Die Vierjährige räumt alle Kostüme im Kinderzimmer aus und verteilt sie auf die gesamte Wohnung. Die Zeit, in der ich hinterherlaufe, um die Kostüme wieder einzusammeln, nutzt das Zwillingsmädchen, um sein neues Talent – das Wasserbecher umschubsen – im Wohnzimmer zu üben. Neben ihr packt der Zwillingsjunge die CDs aus dem Schrank. Und während ich so völlig entspannt am trockenwischen und einräumen bin, fällt mir auf, dass der Teenie seit zwei Stunden überfällig ist. Die Arbeitsgemeinschaft ist schon lange vorbei. Anrufen kann ich sie nicht, hab ja das Handy eingezogen, ich Depp. Also mach ich mich auf die Suche und treffe an der Schule die Hortnerin an, die die AG Entspannung durchführt, die mir dann völlig entsetzt mitteilt, dass die AG doch heute ausgefallen sei und sie alle Kinder umgehend nach Hause geschickt habe. Entspannend!

Da ich nix besseres zu tun habe, laufe ich das Dorf ab und frage bei ihren Freunden nach, ob sie da ist. Natürlich nicht. Schnaps ist verlockend. Zu Hause angekommen ist sie da. Ich habe ihr erlaubt erst später nach Hause zu kommen. Amnesie! Ich leide unter Amnesie! Nein. Ich werde einfach nur frech angelogen und habe innerlich einen Homer-Bart-Moment. Ich überleg mir später was, denn aus den Augenwinkeln sehe ich, wie die Zwillinge von mehreren Seiten des Esstisches Anlauf auf mein Handy nehmen. Also geh ich erstmal dort hin und bekomme in diesem Moment eine Nachricht von meinem Mann. Ein Selfie aus einem Krankenhauszimmer. Ich solle mir keine Sorgen machen und ruhig bleiben. Soll mich um die Kinder kümmern. Nix schlimmes, er hatte wahrscheinlich einen Herzinfarkt.

Da siehst du deine Kinder in Zeitlupe auf dem Tisch rumkrabbeln und hörst ihr Geschrei wie durch Watte. Da hast du plötzlich einen schweren Stein auf der Brust und hast Angst. Angst deine andere Hälfte zu verlieren, Angst den Vater deiner Kinder zu verlieren. Angst. Einfach Angst. Das Geschrei der Kinder ist plötzlich nicht mehr schlimm, das umgekippte Glas Wasser auch nicht. Aufstehen, ins Auto steigen, in die Notaufnahme fahren – das willst du. Deine Kinder allein lassen kannst du aber auch nicht. Ruhig sollst du bleiben, schreibt er. Dass die Krankenschwestern hier fürchterliche Lästerschwestern sind, sagt er. Dass die Ärzte alle durcheinander reden und sie ihm schon 15 Liter Blut abgezapft haben, schreibt er. Da lachst du, unter Tränen. Dein kleiner Sohn kommt zu dir und streichelt deine Wange und du weinst noch mehr. Deine Tochter kommt zu dir und gibt dir einen Kuss auf den Arm. Dein Mann schreibt, dass alles gut wird. Du möchtest das gerne glauben.

Und als du in der Nacht dann doch noch in der Notaufnahme stehst und einen ganz widerlichen Cappuccino aus dem Automaten im Wartebereich trinkst und ein blasses Häufchen Elend Mann um die Ecke schlurft und schief lächelt, dann versöhnt dich das doch ein wenig mit dem Scheißtag. Du hast Nerven verloren, aber nicht deinen Mann. Es war kein Herzinfarkt. Gott sei Dank. Du hast dich mit Teenagern gezankt und fluchend hinter Kleinkindern hergeräumt. Aber sie sind gesund. Alle. Du hast niemanden verloren. Deine Arche ist noch intakt. Die See war stürmisch, aber niemand ist über Bord gegangen. Wen interessieren da ein paar Löcher im Segel. Du hast alle um dich, die du liebst. Und das ist es, was am Ende des Tages zählt.